Nahtoderfahrungen zwischen Wissenschaft und Vorurteilen
Dr. Enrico Facco, Dr. Christian Agrillo
(veröffentlicht in Frontiers in Human Neurocience, Juli 2012, Band 6, Artikel 209)
Autoren:
Dr. Enrico Facco, Ao Prof, Abteilung für Neurowissenschaften, Universität Padua, Padua, Italien
Dr. Christian Agrillo, Abteilung für Allgemeine Psychologie, Universität Padua, Padua, Italien
Zusammenfassung:
Diese wissenschaftliche Veröffentlichung dient dazu, einen detaillierten Überblick über die Forschungsliteratur zu Nahtoderfahrungen zu geben.
Die Haupthypothesen für die auf wissenschaftliche Grundlagen gestützte Auslegung von Nahtoderfahrungen sind:
- (a) retinale Ischämie der Netzhautperipherie und Fovea als Ursache des Tunnelblicks
- (b) systemische Azidose und Ionenverschiebung
- (c) temporale Dysfunktion der Gehirnlappen und epileptische Entladungen
- (d) Glutamat-abhängiger exzitotoxischer Schaden und seine endogenen Modulatoren (z.B. Agmatin)
- (e) andere Ungleichgeweichte von Neurotransmittern (wie Noradrenalin, Dopamin, endogene Opioide, Serotonin)
- (f) Analogien zwischen Nahtoderfahrungen und der Wirkung von Halluzinogenen
- (g) REM-Schlafstörungen und/oder multisensorische Störung (z.B. des Gyurs angularis, wodurch außerkörperliche Erfahrungen ausgelöst werden können)
- (h) psychologische Hypothese hinsichtlich der Erwartung an ein Leben nach dem Tod
Die Autoren befassen sich eingehend mit jeder dieser acht Hypothesen und zeigen die Unzulänglichkeiten dieser Versuche, Nahtoderfahrungen zu erklären, auf. Des Weiteren werden die epistemologischen Implikationen der Nahtoderfahrungen und die Rolle, die Vorurteile bei wissenschaftlichen Forschungsarbeiten spielen, untersucht.
Fazit:
Bei Nahtoderfarungen handelt es sich um ein faszinierendes, wenn auch immer noch unverstandenes Phänomen, das den Kern der Erkenntnisgewinnung in der Neurobiologie (d.h. die Idee von Bewusstsein als eine Begleiterscheinung des Hirnkreislaufes) in Frage stellt. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass das Studium des Bewusstseins zunächst von der galileischen Wissenschaft abgelehnt und Jahrhunderte lang als ein Teil der Philosophie und Religion angesehen wurde. Dies resultierte dabei jedoch nicht aus einer freien und wohlbegründeten epistemologischen Betrachtung. Vielmehr handelte es sich hierbei um das Nebenprodukt des Konflikts mit der Inquisition, dass die Seele (also die Psyche und der Geist) eine rein theologische Angelegenheit sei. Demzufolge wurde das Studium des Bewusstseins erst in den letzten Jahren zu einem der Hauptforschungsfelder der Neurowissenschaft, das sich auch heute noch im Anfangsstadium befindet. Trotz der Fülle an wertvollen Daten über das Neuroimaging von Gehirnfunktionen wissen wir wahrscheinlich weniger über den Verstand, als wir geneigt sind zu glauben. Noch schlimmer steht es um unser Wissen hinsichtlich Spiritualität und anderer gedanklicher Aktivitäten (die sogenannten alternierenden Bewusstseinszustände), die weiterhin unverstanden sind, wie z. B. Nahtoderfahrungen, Hypnose, Meditation und mystische Erfahrungen zählen.
Es ist an der Zeit, dass sich die Neurowissenschaft von den anhaltenden kulturellen Filtern abwendet und sich frei, säkular und wissenschaftlich dem Bewusstsein, der Spiritualität und dem Gedächtnis zuwendet, um so alte Vorurteile zu überwinden.
Reduktionismus ist ein zuverlässiges und mächtiges Mittel, das wir uns zu Nutze machen sollten. Dennoch handelt es sich hierbei nur um ein Hilfsmittel, ebenso wie ein Messer, dass zum Retten oder zum Nehmen von Leben verwendet werden kann. Obwohl der reduktionistische Ansatz für das Studium von Gehirnbereichen und Mechanismen bestimmter Funktionen eine wesentliche Rolle spielt, scheint er blind gegenüber der Phänomenalität von Erfahrungen, Bedeutungen, Werten und deren Auswirkung auf das menschliche Leben und die Kultur zu sein, die sich dem Reduktionismus auch weiterhin nicht erschließen.
Download: http://www.deanradin.com/evidence/Facco2012NDE.pdf
Die Übersetzung ins Deutsche wurde von FRONT RUNNER (Übersetzungsbüro Berlin) bereitgestellt.